[Lore] Die letzten Worte von Thelonius dem Schreiber – Teil I
Verfasst: Mo 21. Apr 2025, 19:52
Diese Chronik ist nicht vom Papsttum autorisiert. Wäre ich jünger, würden sie mich dafür verbrennen. Aber ihre Feuer erlöschen, und ebenso erlischt ihr Griff auf die Wahrheit. Sie haben die Geschichte in ihrem eigenen Bild umgeschrieben, Stimmen ausgelöscht, Schriften zerschmettert und diejenigen zum Schweigen gebracht, die sich erinnerten. Doch das Gedächtnis ist widerstandsfähig, und Tinte, obwohl zerbrechlich, kann sogar Reiche überdauern.
Letzte Nacht, als ich in dieser zerfallenden Steinzelle liegend hustete, wurde ich von einer Fay besucht. Kein Vision, kein Traum. Eine Präsenz so real wie der Stein unter meinem Rücken. Ich hatte das Gefühl, vor einem Sturm zu stehen, nicht Wind noch Regen, sondern etwas weitaus Größeres, eine Naturgewalt, eingehüllt in Gnade und Trauer. Sie kniete sich neben mich und sprach nicht in Worten, sondern in Wahrheiten.
„Bewahre die Hoffnung, Thelonius“, sagte sie, „Demiras Traum ist nicht verflogen. Ihr Opfer war nicht das Ende, es war der wartende Same.“
Und als sie sich zum Gehen wandte, hielt sie inne, das Licht ihrer Form warf keinen Schatten. „Beim nächsten Mal, wenn wir uns begegnen“, sagte sie, „wird es dein letzter Tag in dieser Schöpfung sein, und der Beginn des Zeitalters der Erben.“
Und so schreibe ich, nicht für mich selbst, sondern für sie, für dich, Erbe. Mögen diese Seiten die Laterne sein, die deinen Weg erleuchtet.
—Thelonius der Schreiber
Letzter Hüter des Verborgenen Lichts
Aus dem Scriptorium von Lunthyr,
verhüllt in Nebel und Stille, wo die Toten noch träumen
Geschrieben im Winter des Jahres 3999
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Die Neun Schöpfungen zuvor
Vor dem Paradies, vor dem ersten Atemzug der Menschheit, gab es andere. Viele andere.
Die Welt, auf der wir wandeln, ist nicht die erste. Dies ist die zehnte Schöpfung, und wir sind ihre Kinder, aber nicht die Erstgeborenen der Schöpfungen.
Neun Mal zuvor formte das Göttliche das Gewebe der Existenz. Neun Mal zerbrach es. Jede Schöpfung wurde von einer Todsünde korrumpiert, die von innen heraus wie Fäulnis an der Wurzel emporstieg, und jede wurde von einer Himmlischen Tugend beantwortet, die in die nächste eingeflochten wurde. Die Erste wurde von Zorn verzehrt, und aus ihrer Asche stieg der Dunkle Lord, der Große Verführer. Eine andere ertrank in Neid, wo Leviathan durch die Gewässer der Schöpfung schlich, stets sehnend. Völlerei blähte eine Welt in die Stille, und eine andere fiel in Leichtigkeit, wobei das Lachen sie in Hohn verwandelte, bis sogar der Tod zum Scherz wurde.
Die Fay, die Erstgeborenen einer älteren Gnade, stammen aus einer dieser gefallenen Welten. Sie sprechen nicht darüber. Andere unter uns, Trolle, Oger, Meerjungfrauen, Kelpies oder Wyvern, sind Überbleibsel zerbrochener Zeitalter, durch Zeit, Sünde und Überleben geformt. Nicht alle waren zu Beginn böse. Nicht alle sind es jetzt, denn einige wurden von den Fay gerettet und in ihr verborgenes Reich geführt. Wenn der Schleier zwischen den Welten dünn wird, können diese Wesen wieder in unsere Schöpfung übertreten.
Das Göttliche entfernte nicht immer das Alte, um das Neue zu schaffen. Einige Schöpfungen wurden begraben, in Geist unter unsere eigene Schöpfung geschichtet. Ihre Knochen bleiben und darunter Erinnerungen, Artefakte, vergessene Magie. Und durch all dies nagen zermalmende Dämonen.
Wo die Sünde im Weltlichen Fuß fasst, gräbt sie sich nach unten, bohrt durch die Ruinen der Vergangenheit. Sie beginnt in den Rinnsalen, flachen und verdrehten Höhlen, die von Kultisten dieses Äons gebaut wurden. Tiefer noch liegen die Tempel, wo dämonische Einflüsse anschwellen und die Luft sich mit Sakrileg und Sodom füllt. Und immer tiefer steigen sie, entweihen die Überreste vergangener Epochen und quälen die verbliebenen Geister, werden immer stärker, bis zum trügerischen Punkt ohne Rückkehr, wo die Schöpfung endet und die Hölle beginnt. Dies sind die wahren Reiche der Dämonen, nicht gebaut, sondern geboren, ausgeschieden, durch Sünde und Leid entlassen und in Schreine ihrer eigenen verwerflichen Gestaltung geformt.
In einen dieser Tiefen zu stürzen ist nicht einfach nur ein Abstieg. Es ist ein Stürzen durch die Sünden der Geschichte.
—Thelonius der Schreiber
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Das Zeitalter des Paradieses
Die Geschichte dieser Schöpfung beginnt mit Protennoia, der Ersten Erlöserin, die die Menschheit im heiligen Herzen der Welt gebar, wo eines Tages der Axis Mundi emporsteigen würde. Protennoias Gaben an ihre Kinder waren rein, schlicht und ungeschmückt: Geburt, Liebe und Licht. In jenem ersten Garten stand ein wundersamer Baum, von dem viele glaubten, er sei Teil des Geistes der Erlöserin. Seine goldenen Früchte gewährten ewige Jugend und Nahrung.
Dies war eine Zeit vor der Komplexität und vor dem Begriff des Bedarfs. Kein Hunger nagte, keine Gefahr lauerte. Es gab kein Feuer, denn es gab keine Kälte. Kein gesprochenes Wort, denn Gedanken und Gefühle flossen als eines. Die Menschheit bewegte sich in stiller Harmonie und Anmut mit den Tieren, trank aus klingenden silbernen Bächen und schlief unter einem Himmel, der niemals dunkelte.
Es gab nur Sommer, die unendliche Wärme göttlicher Gunst. Die Sonne ging auf, stieg empor und glitt in die Dämmerung, aber sie verschwand nie. Es gab keine Nacht. Kein Tod. Kein Schatten.
Doch selbst die Stille kann verfallen.
Trägheit war die erste Sünde, die sich regte, ein stumpfer Geist, der sich in Passivität zufrieden gab. Dann kam die Lust, die unschuldige Freude in begehrliche Gier verwandelte. Einer der Ersten brach das heilige Band. Mit seinen Gefährten pflückte er die heiligen Früchte nicht aus Bedürfnis, sondern nach Macht. In diesem Akt wurde die Göttliche Wurzel verletzt. Die Harmonie des Paradieses zerbrach. Der große Baum begann zu welken und zu verfallen. Die Gewässer, die die Schöpfung geschützt hatten, begannen sich zurückzuziehen und enthüllten eine Welt, die unvorbereitet war auf das, was jenseits lag.
Die Nacht kam. Niemand erinnert sich genau, wann, nur dass sie nach dem Verrat kam. Und mit ihr kam die erste Kälte.
Das Paradies wurde uns nicht genommen. Wir verließen es.
Als Stämme den sterbenden Garten verließen, trafen sie auf eine Welt, die sowohl riesig als auch grausam war. Scharfe Winde zerrten an ihnen, Hagel und Regen biss ihnen. Wilde Tiere, einst sanft, wurden zu Raubtieren. Der erste, der starb, hinterließ keine Worte, keine Rituale, keine Lieder. Für die Menschheit gab es keine Erinnerung an Trauer und keinen Kurs für Kummer oder Reue. Sie waren Kinder, geboren für den Frieden, gezwungen zu überleben.
Diejenigen, die überlebten, wurden verändert. Härteten ab. Bitter. Sie wurden zu den Wilden Ersten, zornig und wild, ihre Bindung zum Göttlichen verdunkelt, ihre Zungen unverformt, reduziert auf gutturale Gesänge und wortlose Brummen.
Und doch gingen nicht alle in den Schatten. Einige, die noch immer die Erinnerung an Protennoias Wärme trugen, wanderten weit und gründeten verborgene Zufluchtsorte. Diese verstreuten Linien bewahrten Schimmer des alten Friedens, Spuren, die eines Tages in den Erzählungen von Atlantis und in der Heiligkeit von Hainen wieder auftauchen würden, in denen die Ranken noch immer in den Himmel schwirrten.
Obwohl die Göttliche Wurzel verwelkt ist und ihre Früchte nicht mehr existieren, hallen Echos jener ersten Stille in den Ley-Linien nach. Und manchmal, in Träumen oder im Schweigen vor der Morgendämmerung, erinnern wir uns daran, was wir waren.
Und was wir verloren haben.
—Thelonius der Schreiber
Verwendete Gemälde als Kopfzeilen in den Bildern:
Caravaggio, Saint Jerome Writing, 1605-1606
Botticelli, Die Karte der Hölle, ~1480-1490 (Illustration für Dantes Göttliche Komödie)
Jan Brueghel der Ältere, Der Garten Eden mit dem Fall des Menschen, 1612