[Lore] Das Zeitalter der Ahnen – Meirothea (~350 bis ~500)

  • Als wir aus den sterbenden Echos des Paradieses auftauchten, waren wir kaum mehr als umherirrende Schatten – stumm, ziellos, stolpernd durch eine Welt voll erschreckender Wunder. Die Wasser waren zurückgewichen, und mit ihnen unsere Unschuld. Wo einst nur der Sommer herrschte, hatte sich die Welt verändert. Die Sonne verweilte nicht länger ewig am Himmel. Die Nacht war gekommen, und mit der Erfüllung der Zeit – der Winter. Nicht als Strafe, sondern als Spiegel unseres Verlustes.

    Doch wir erkannten: Der Winter trägt auch Gnade in sich.

    Da sandte das Göttliche in Seiner Barmherzigkeit Meirothea, eine Zweite Erlöserin. Ein Cherub mit fließender Stimme und leuchtender Gestalt. Sie stieg herab und lehrte uns, die Kälte zu ertragen, das Schweigen, die Nacht. Sie gab uns Sprache, damit wir benennen konnten, was wir fürchteten. Sie gab uns Lieder, um das zu bewahren, was wir liebten. Und sie gab uns Zeichen, um das zu erhalten, was wir lernten. Aus ihren Gaben entstand das Gedächtnis.

    Vor ihrer Ankunft besaßen wir keine Sprache, keine Geschichten, keine Möglichkeit, Gedanken in Vermächtnis zu verwandeln. Mit ihren Gaben überschritten wir die Schwelle von bloßem Überleben zu Kultur. Und die Welt selbst schien zu antworten. Wälder hallten von Gesang wider, Flüsse flüsterten in Versen, und es heißt, dass in ihrer Nähe Ranken wuchsen, sich ihrem Klang entgegenstreckend wie Blumen dem Sonnenlicht.

    Auch die Vögel kamen in ihrer Zeit – oder kehrten zurück. Manche sagen, sie seien nicht hier geboren, sondern aus den alten Welten des Himmels und der Feen durch ihre Stimme angelockt worden. Sie kreisten über ihr und nisteten in der Nähe ihrer Lichtungen – Erinnerungen an den göttlichen Chor, dem das Wandeln auf Erden nicht länger erlaubt war. Ihre Lieder wurden in Meirotheas Schatten heilig.

    Ihre Heiligtümer waren nicht aus Stein, sondern aus Erde und Mondlicht – Wasserfälle, dämmrige Lichtungen und Höhlen, in denen das Feuer alte Rhythmen in die tanzenden Schatten warf.

    Doch wie immer zieht Licht auch Schatten an.

    Moloch, geboren aus Zorn und geformt durch göttliche Wut, erhob sich aus den wilden Tiefen, um ihr entgegenzutreten. Seine Bestien zerrissen, was sie genährt hatte. Ein Krieg begann – verborgen vor den Augen der meisten, doch spürbar in den Schauern des Windes und den Knurren in der Dunkelheit. Doch Meirothea kämpfte nicht allein. An ihrer Seite standen unsere Ahnen – die ersten, die Magie durch Tanz und Stimme wirkten. Und neben ihnen wandelten noch ältere Wesen, fremd, leuchtend, halb vergessen – wir nannten sie später die Feen.

    Auch die Wölfe verließen das Wilde und wurden zu ihr gezogen. Unter ihrem Blick heulten sie nicht aus Wut, sondern in Ehrfurcht. Sie wurden ihre stillen Verbündeten – keine Diener, sondern Geister des Verstehens und der Stärke.

    Um uns durch die Dunkelheit zu führen, setzte Meirothea den Mond an den Himmel. Legenden erzählen, dass sie eine silberne Scholle aus den Bergen Gallias riss und sie emporhob – nicht nur als Laterne, sondern als Spiegel, der zeigt, was gesehen werden muss. Unter seinem Licht wurden die Bestien des Zorns entlarvt. Und seither können jene, die vom Zorn verdreht sind, sich nicht länger unter seinem Schein verbergen.

    Der Winter kehrte jedes Jahr zurück, doch unter Meirotheas Wirken erhielt er Sinn. Er wurde zur Jahreszeit der Besinnung, zur Zeit des Erinnerns und der Vorbereitung – nicht der Trauer. Der Tod war kein Nichts mehr, sondern ein Übergang, und das Gedächtnis sein Licht.

    Doch nicht alle strebten nach Erinnerung.

    Luzifer und Leviathan – Geister des Stolzes und des Neids – bewegten sich im Verborgenen. Sie wollten Meirothea nicht vernichten, sondern sie bekehren. Was wirklich geschah, ist selbst unter den Weisen umstritten. Manche sagen, der Stolz habe sie beinahe vom Pfad abgebracht. Andere sagen, der Neid habe zuerst zugeschlagen, um genau das zu verhindern. Sicher ist nur eines: Beide wurden in den Abgrund zurückgestürzt, und Meirothea, im Geist verwundet, kehrte in den Himmel zurück.

    Sie hinterließ keinen Tempel, keine Krone, kein Reich.

    Sie hinterließ den Mond.
    Sie hinterließ Geschichten und Lieder.
    Und durch sie erinnern wir uns an sie.

    An jedem Winterfeuer, in jedem heiligen Lied verweilt ihre Gegenwart. Der Mond wacht noch immer. Und unter seinem Schein fürchten wir nicht die Dunkelheit – sondern erinnern uns an jene, die uns zuerst lehrte, hindurchzugehen.

    —Thelonius der Schreiber

    Credits, paintings:
    The Age of the Ancients – Meirothea - Mucha, Winter, 1896

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